Der Dieb des Feuers home

Das dritte Kompositionsprojekt  von Wolfgang Seierl
in Zusammenarbeit mit der Internationalen Paul Hofhaymer Gesellschaft Salzburg

Der Dieb des Feuers nach Texten von Simone Weil und Arthur Rimbaud
"Wenn die unendliche Knechtschaft der Frau gebrochen ist, wenn sie für sich und durch sich leben wird und der Mann, - bisher abscheulich, - ihr zurückerstattet, was er ihr schuldet, wird sie Dichter sein, auch sie! Die Frau wird das Unbekannte entdecken!"

Arthur Rimbaud, Seher-Briefe 1871
Ñ...ein Vorrücken, ein Abenteuer, eine Entdeckung der Kräfte der Frau: ihrer Macht, ihrer Stärke, ihrer immer gefürchteten Gewalt und der Regionen der Weiblichkeit. Es gibt etwas, das beginnt, sich zu schreiben und das ein weibliches Imaginäres konstituieren wird...das heißt den Ort der Identifikationen eines Ichs, das nicht mehr entfremdet wäre nach dem Bild, das das Männliche vorschlägt, sondern das im Gegenteil Formen erfinden wird für die Frau, die unterwegs ist, sodass die Frau, anstatt sich hinzulegen, vorwärts und im Sprung sich suchen gehen wird.ì
Hélène Cixous, Geschlecht oder Kopf 1976
Die beiden ersten Projekte dieser als Trilogie angelegten Werkfolge (Primavera, Die blinden Götter) beschäftigten sich mit Problemstellungen, die neben ihrer gesellschaftlich politischen Relevanz auch neue musikalische Dimensionen aufzuschließen versprachen. Die Impulse zu allen drei Arbeiten kamen jedoch zunächst aus der Literatur. In ÑPrimaveraì waren es Texte Ossip Mandelstams sowie zweier weiterer Dissidenten aus zeitlich weit entfernten Epochen, nämlich Lukrez und Dante. Kompositorisch  reagierte ich mit der Thematisierung zweier Umbruchsituationen in der Musik, dem Wechsel von der Polyphonie zum Generalbass im 16. Jahrhundert sowie dem sich gerade vollziehenden Wechsel vom analogen zum digitalen Musizieren.  ÑDie blinden Götterì waren eine Reaktion auf zwei Ereignisse im Jahr 2001, die zwar geographisch weit auseinanderlagen, jedoch in engem Zusammenhang zueinander standen: Die Zerstörung der beiden riesigen Buddhastatuen in Bamyan/Afghanistan und der Terroranschlag am 11. September in New York. Die Texte von Tich Nhat Hanh, Gotthard de Beauclair, Robert Musil, Sophokles, Jim Morrison, dem historischen Buddha, Jim Morrison, Allen Ginsberg und George Bush stehen für Paradigmen der östlichen und westlichen Kulturen und der aus ihrem Aufeinanderprallen resultierenden Konflikte, die unserem Jahrhundert weltweit ihren Stempel aufprägen und mehr denn je zu eskalieren drohen.

"Der Dieb des Feuers", eine Art Conclusio, ist eine Auseinandersetzung mit der Sprache der Frau, ausgelöst durch ein Zitat Arthur Rimbauds aus dem Jahr 1871, der visionären Schau einer künftigen Gesellschaft: Die Konflikte zwischen zeitlich aufeinanderfolgenden (alt/neu, konservativ/progressiv) und räumlich auseinanderliegenden Positionierungen (Ost/West, Christentum/Islam) beruhen auf Lebenskonzepten und Strukturen, die, vorwiegend von Männern erdacht, auf Macht, Herrschaft und Ewigkeit ausgerichtet sind. Dieses Ñmännlicheì, diskursive, lineare Denken bezieht wesentliche Faktoren unseres Daseins nicht mit ein, nämlich den Tod und die dadurch vorgegebene zyklische Erneuerung des Lebendigen.

Seit den oben zitierten bemerkenswerten Äußerungen Rimbauds zur Stellung der Frau als künftige Dichterin gibt es sehr ernsthafte Bemühungen, diese Sprache der Frau wissenschaftlich zu erforschen und als Paradigma einer kommenden Zeit zu erkennen. Die französische Philosophin Hélène Cixous entwickelte in ihrer Arbeit Visionen einer Gesellschaft, in der die Frau durch Aktivierung ihres großteils noch brachliegenden Potentials an Intuition, Mut und Körperbewußtsein die heute unüberwindlich scheinenden Krisen zu meistern beitragen wird können.

In ÑDie blinden Götterì kommt auch Sophokles' Ödipus vor,- doch Teiresias, der blinde Seher, der Ödipus daran erinnert, dass die Blindheit sein Meister ist,  besitzt den Vorteil eines einzigartigeren Schicksals: er hatte sieben Jahre als Frau und sieben Jahre als Mann gelebt. Er hatte eine doppelte Sichtweise. Er sieht von der Seite des Männlichen und von der Seite des Weiblichen aus. Das erinnert an die Doppelgesichtigkeit der Venus, die schon in ÑPrimaveraì angesprochen wird. Die Gedichte Rimbauds sind eindrucksvolles Zeugnis eines Ringens um dieses höhere oder besser: "tiefere" Wissen, eines Ringens um die Integration des Weiblichen, um Intuition und Einsicht.
Kompositorisch nähere ich mich diesem Thema mit der Frage nach der Zukunft musikalischer künstlerischer Systeme, mit der Suche nach einer Art doppelter Sicht- bzw. Hörweise, nach einer Sprache und Arbeitsweise des Umherschweifens und des Risikos, die Hélène Cixous vorzüglich der Frau attestiert. Der den Rimbaudschen Texten vorangestellte Prolog von Simone Weil steckt den Ort des Geschehens, eines Suchens, ab: "Es war nicht mehr Winter. Es war noch nicht Frühling."
Es ist eine Zusammenfassung der Geschichte ihrer Seele, in der sie beschreibt, wie Gott eine Seele aufsucht und sie wieder im Stich lässt, damit sie ihn selbst auf ihre Weise suchen gehe. Leben und Werk Rimbauds zeugen von einem ähnlichen Ringen und Suchen ("Einst... war mein Leben ein Fest, wo sich auftaten alle Herzen.../Ich brachte es dahin, dass alle menschliche Hoffnung aus meinem Geist entschwand." Une Saison en Enfer).

Das Tonmaterial sowie die Behandlung der Stimmen entwickeln sich aus von der Gregorianik beeinflussten Ideen, denen die Ehrfurcht vor dem Wort zugrunde liegt:
Die Einstimmigkeit, die sich selbst suchen geht. Und nicht nur der Weilsche Text, auch die Texte von Arthur Rimbaud begeben sich in diesem Stück auf die Suche, zeigen, collageartig adaptiert, ihre Widersprüchlichkeiten. Es ist eine von diesen Texten ausgehende Herausforderung, jede Art von Eitelkeit zurückzunehmen.
In beiden Bereichen, Vokalensemble und (Live-) Elektronik, bestimmen bzw. interpretieren diese gegensätzlichen Sichtweisen das Material unterschiedlich, wobei es um die Polarität Ñberechenbar-unberechnebarì bzw. Ñlinear-zyklischì geht.

Die Texte:
Simone Weil, Prolog zu "La Connaissance Surnaturelle" (1942)
Arthur Rimbaud, Sonne und Fleisch (1870), Une Saison en Enfer (1873), Illuminations (1872-74), Lettres dites "Du Voyant" (1871)
(Ausschnitte)
Die Besetzung:
Thomas Künne, Countertenor
Matthias Heubusch, Tenor
Radu Cojocariu, Bassbariton
Flora Miranda Seierl, Gesang
Wolfgang Seierl, Elektronik und Live-Elektronik
Uraufführung am 1. November 2003 in der Schlosskirche Mirabell, Salzburg
 

Eine Produktion der Internationalen Paul Hofhaymer Gesellschaft Salzburg hofhaymer@nusurf.at © 2003
 

gefördert von: Bundeskanzleramt/Kunstsektion



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