Zyklus nach Texten von Lukrez, Dante
Alighieri und Ossip Mandelstam für 2 Soprane, Altus, 2 Tenöre,
Bassbariton und Live-Elektronik
Auftragswerk der Internationalen Paul Hofhaymer Gesellschaft Salzburg
(künstlerische Leitung Prof. Maria Hofmann)
UA 31. Mai 2001 St.Erhard/SalzburgRosemarie Schobesberger, Sopran
Brigitte Zauner, Sopran
Thomas Künne, Altus
Gerhard Erlebach, Tenor
Bernhard Berchtold, Tenor
Alois Späth, Bassbariton
Jaroslaw Wroblewski, Einstudierung und Leitung
Wolfgang Seierl, Live-Elektronik, GesamtleitungHörproben: L'una tanto rossa Te Dea
gefördert durch:
Land Salzburg, Bundeskanzleramt, Stadt Salzburg, austro mechana/SKE-Fonds
Hervorragende Arbeitsatmosphäre
kennzeichnete diese Produktion.
"Ein Sacre du printemps für
lautere, intonationsgenaue Stimmen und elektronische Vitaminschübe
aus der wohlsortierten Geräuschschublade." (Peter Cossé/Der
Standard)
Lukrez, De rerum natura, 5, 737-740
Die "Primavera" Sandro Botticellis
gehört zu den meistdiskutierten Gemälden der abendländischen
Kunstgeschichte. Dieses im Jahr 1485 von Lorenzo di Pierfrancesco in Auftrag
gegebene Werk trägt in einer behutsamen Näherung an die Philosophie
des Lukrez eine alternative Weltsicht vor, in der sich der Konflikt des
Auftraggebers mit der Medici-Hauptlinie philosophisch fundiert.
Die neun auf diesem Bild dargestellten
Personen sind auf innige Weise miteinander verwoben. Im Mittelpunkt Venus
mit ihrem Sohn Cupido, rechts von ihr Flora und Chloris, - eigentlich eine
Person in zwei Darstellungen - , und ganz rechts Zephyr, der Westwind.
Links die drei Grazien als Sinnbild für Begierde, Keuschheit und Schönheit,
ganz links Merkur, der Bote der Venus.
Dieses Bildgefüge nahm ich als Ausgangspunkt für die Komposition, die sich formal und inhaltlich an der Themenstellung dieses Werkes orientiert: Zweier- und Dreiergruppen, die jeweils eine Einheit bilden etwa wie z.B. die drei Grazien oder die Gruppe Flora-Chloris-Zephyr, aber auch die Einheit von Flora-Chloris und schließlich die geheimnisvolle Doppeldeutigkeit im Antlitz der Venus, deren beiden Gesichtshälften ganz unterschiedlichen Ausdruck zeigen.
Musikalisch näherte ich mich diesem
Inhalt mittels zweier Zitate aus dem Werk Claudio Monteverdis ("Ecco di
dolci raggi" und "Duo seraphim clamabant").
In "Ecco di dolci raggi" wiederholt
sich dieses Bild des Aufbruchs, der sich im Frühling vollzieht, gepaart
mit einer gewissen Melancholie des Vergänglichen. In der Einheit von
Gewalt und Liebe, die poetisch und politisch zugleich auf visionäre
Ideen verweist, ist aber ein Potential für Veränderung gegeben.
Der musikalische Paradigmenwechsel
von der Polyphonie zum Generalbass markiert eine Wende, die ich mit dem
heutigen Vormarsch der elektronischen Mittel in der Musik vergleichen will.
Dem Prinzip des Dualen in den Madrigalen Monteverdis (z.B. in den Duetten)
wird das Duale Prinzip der Klangmodulation in der elektronischen Musik
(Oszillator) gegenübergestellt.
Die Texte als Grundlagen der Vokalstimmen
entnahm ich alten und neueren Quellen. Den Texten von Lukrez (Welt aus
Atomen) und Dante Alighieri (Göttliche Komödie) stellte ich Gedichte
von Ossip Mandelstam gegenüber, die dazu beitragen, de politische
und doppeldeutige Dimension des Frühlings zu betonen.
Ossip Mandelstam und Dante Alighieri
verbindet das Schicksal der Verbannung. Mandelstam, der auf dem Transport
nach Sibirien in einem Durchgangslager bei Wladiwostok starb, war ein glühender
Verehrer Dantes, über den 1302 der Bann ausgesprochen wurde. Auch
Lukrez war ein Unverstandener in seiner Zeit, dessen Leben in einer Tragödie,
womöglich im Selbstmord endete. In seinem Essay "Gespräch über
Dante" beschreibt Mandelstam seine an Dante orientierte, kompromisslose
Auffassung von Poesie, die möglicherweise auch für Lukrez Gültigkeit
zu besitzen scheint und die meine Arbeit begleitet hat:
"Poetische Sprache ist ein Kreuzungsprozess
und setzt sich aus zwei Klangweisen zusammen. Die erste dieser Klangweisen
ist die für uns hörbare und fühlbare Veränderung der
Instrumente poetischer Sprache, die bei deren Ausbruch überhaupt erst
entstehen. Die zweite ist das eigentliche Sprechen, d.h. die Arbeit der
Intonation und Artikulation, die von den genannten Instrumenten geleistet
wird.
So verstanden ist die Poesie kein
Teil der Natur, auch nicht ihr bester und erlesenster, und noch weniger
ihr Abbild, was einer Verhöhnung gleichkäme. Vielmehr siedelt
sie sich mit einer überwältigenden Unabhängigkeit in einem
neuen, außerräumlichen Aktionsfeld an, wo sie die Natur nicht
nacherzählt, sondern sie spielend inszeniert mit Hilfe jener Instrumente,
die umgangssprachlich "Bilder" heißen.
Poetisches Sprechen oder Denken kann
nur sehr bedingt klingend genannt werden, weil wir in ihm nur die Kreuzung
zweier Linien hören, von denen die eine, für sich genommen, absolut
stumm ist, während die andere ohne jene instrumentale Metamorphose
völlig ohne Bedeutung und Interesse ist und nacherzählt werden
kann, was in meinen Augen das untrüglichste Zeichen für das Nichtvorhandensein
von Poesie ist: Denn dort, wo ein Text mit seiner Nacherzählung vergleichbar
wird, sind die Laken nicht angerührt, da hat die Poesie nicht genächtigt.
Dante ist ein Instrumentenmeister der Poesie und kein Verfertiger von Bildern.
Er ist ein Stratege der Verwandlungen und Kreuzungen und alles andere als
ein Dichter in der "gesamteuropäischen" und oberflächlichen kulturellen
Bedeutung dieses Wortes...Er ist durchdrungen vom Gefühl unsagbarer
Dankbarkeit für den blendenden Reichtum, der ihm in die Hände
fällt. Seine Sorge ist nicht eben klein: Er muss Raum schaffen für
das Anströmende, das erstarrte Sehen vom Star befreien, sich darum
bekümmern, dass die großzügig hervorströmende poetische
Materie nicht zwischen den Fingern zerrinnt, nicht ein leeres Sieb hinterlässt.
Tutti dicean: "Benedictus qui venis!"
E fior gittando di sopra e dintorno: "Manibus o date lilia plenis!" (Purgatorio
XXX, 19-21)."
Wolfgang Seierl, Mai 2001