FRANKFURTER
RUNDSCHAU
Flucht und Zuwanderung - 5 | 12 | 2013
FL†CHTLINGE GASTBEITRAG
Europa verrŠt seine Geschichte
Von Nuruddin Farah
Europas BŸrokraten haben
vergessen, dass auch von hier einmal Millionen Menschen vor Krieg und Verfolgung
flŸchteten. Jeder Migrant, der sterben muss, ist eine
weitere Anklage gegen die aktuelle europŠische Zuwanderungspolitik.
Es ist
bestŸrzend zu lesen, dass eine Mutter und ihr Baby, noch verbunden durch die
Nabelschnur, tot aus dem Meer gezogen werden. Doch die drakonischen Ma§nahmen,
die Anfang Dezember in Kraft getreten sind, wŸrde ich als den Gipfel des
europŠischen Zynismus beschreiben. Eurosur genannt,
wird das neue europŠische GrenzŸberwachungssystem mit Drohnen und biometrischen
Programmen gegen die illegalen Reisenden im Mittelmeerraum vorgehen.
Die Nachricht
Ÿber die 350 Ertrunkenen von Lampedusa hat breite
EntrŸstung und das instŠndig formulierte Beileid von Politikern und religišsen
Persšnlichkeiten hervorgerufen. In Rom erklŠrte Papst Franziskus das Ereignis
zum ãTag der TrŠnenÒ. Andere trauerten mit den †berlebenden, den MŠnnern und
Frauen und Kindern, von denen einige wŸnschten, sie wŠren selbst gestorben. Und
schon bald hšrten wir die herzlosen Kommentare der Schwarzmaler, die sich mit
anderen BŸrokraten darŸber in die Haare gerieten, wer von den †berlebenden nun
UnterstŸtzung erhalten kšnne und wer nicht. Die BŸrokraten unterschieden
zwischen den Asylbewerbern und den Wirtschaftsmigranten.
Doch wer sind die Menschen, Ÿber die hier entschieden wird?
Migranten sind fast
alle von Hoffnung und einem gewissen Vertrauen in die Menschheit erfŸllt. Der
Wunsch nach einer besseren Zukunft treibt sie an. Sie ziehen los in klapprigen
Booten, von denen so viele schon auf See verloren gingen. Wenn und falls sie
ankommen, gleichen sie den Wracks, die sie nach Europa gebracht haben. Dann
brauchen sie Nahrung, sie benštigen Kleidung und eine Unterkunft, wŠhrend ihre
Papiere untersucht werden und ihre Geschichte ŸberprŸft wird. Nach der Ankunft
erfahren sie sofort den Unterschied zwischen den normalen Leuten, die alles
tun, was sie kšnnen – Unterkunft anbieten, zu essen geben, das Wenige,
das sie haben, mit ihnen teilen –, und den BŸrokraten, fŸr die sie eine
Bootsladung voll unwillkommener UnerwŸnschter sind.
WIE TIERE IN QUARANT€NE GESTECKT
Es ist egal,
ob sie aus Eritrea, Somalia, Syrien oder dem Irak kommen. Wir kšnnen sicher
sein, selbst um in einem solch miserablen Zustand nach Europa zu kommen, haben
die Migranten all ihre Ersparnisse ausgegeben, um die
Schlepper zu bezahlen, die Ÿberall auf der Welt noch die €rmsten und
SchwŠchsten ausbeuten. Uns allen ist bewusst, dass kein denkendes Wesen diese
Reise Ÿber das Meer wagen wŸrde, wŠre er oder sie nicht verzweifelt. Und obwohl
alle das GefŸhl der Verzweiflung teilen, sind ihre persšnlichen Geschichten so
unterschiedlich wie die LŠnder, aus denen sie kommen.
Wenn sie wie
Tiere in QuarantŠne gesteckt werden, ist fŸr viele die Ablehnung, mit der sie
nichtwillkommen gehei§en werden, noch furchteinflš§ender. Vielleicht hatten sie
bereits Angst vor dem, was auf sie zukommen wŸrde, als sie zu ihrer Reise
aufbrachen. Mit Sicherheit aber werden sie einsamer und hoffnungsloser sein,
nachdem man ihnen gesagt hat, dass es fŸr sie in Europa keine Zukunft gibt.
Die
Zeitungsartikel, die ich Ÿber Lampedusa gelesen habe,
berichteten, dass die Bewohner die Migranten
willkommen hie§en. Gleichzeitig sprachen die Menschenrechtsverteidiger und die
FlŸchtlingsinitiativen von der wachsenden Verzweiflung Ÿber die
GleichgŸltigkeit der europŠischen Regierungen. Es werden Diagramme gezeichnet
mit den VorschlŠgen, was mit den Ankšmmlingen zu tun sei. Es werden Tabellen
gefŸllt mit den unterschiedlichen Ma§nahmen, die die
Schar der Experten empfiehlt. Der Kern des Problems bleibt die bŸrokratische
Frage, ob LŠnder, die weit entfernt sind vom Mittelmeer, gleicherma§en fŸr die
Kosten aufkommen und Migranten aufnehmen sollen wie
die LŠnder, in denen sie ankommen. Manche schlagen vor, dass die Neuankšmmlinge
je nach Herkunft gleichmŠ§ig zwischen den europŠischen LŠndern aufgeteilt
werden, in denen es bereits migrantische Communitys ihrer Herkunft gibt.
Die Welt ist
nicht lŠnger, was sie einmal war. Manch einer beschreibt den Zustand, den die
Welt angenommen hat, als ein globales Dorf im Entstehen. Wir wŸrden zu Opfern
unseres eigenen Mangels an Vorstellungskraft, sollte es uns nicht gelingen, den
Schritt vorwŠrts in Richtung des einen globalen Dorfes zu machen. In Richtung
einer Welt, die gro§ genug ist, dass wir, auf dem Stand unseres heutigen
Fortschritts, sie alle als BŸrger teilen kšnnen.
VERSPRECHUNGEN BEREITS VERRATEN
Es ist an der
Zeit, dass die EuropŠer sich in die historische Situation zurŸckversetzen, in
der sie selbst vor 100 oder mehr Jahren waren. Ich gehe davon aus, dass die
EuropŠer die Migrationsgeschichte ihres Kontinentes
nicht vergessen haben. Eine Geschichte, die unabŠnderlich mit Umsiedlungen und
Vertreibungen an anderen Orten dieser Welt verknŸpft ist. Die Geschichte von
Millionen EuropŠern, die die Ozeane Ÿberquerten auf
der Flucht vor Armut und Hungertod, mšrderischen Kriegen, religišser Verfolgung
oder der sozialen Ungerechtigkeit. In Irland, Frankreich, Finnland, Norwegen,
Italien oder England.
Dass ich die
Menschen daran erinnern muss, macht mich traurig. Und ich bin entsetzt darŸber,
dass man die Versprechungen, die nach den 350 Toten von Lampedusa
gemacht wurden, bereits verraten hat. Jeder Migrant,
der sterben muss, ist fŸr mich eine weitere Anklage der aktuellen europŠischen
Politik. Es wurde genug geredet. Keine kontraproduktiven Strategien mehr, die
nur mehr Tod bedeuten. Wir brauchen weniger Worte, mehr Taten.
Nuruddin Farah, ein
Somalier, gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller Afrikas. Er hat
diesen Text fŸr die FR und fŸr die Frankfurter Hilfs- und
Menschenrechtsorganisation medico international
geschrieben. Zuletzt auf Deutsch erschienen ist sein Roman ãGekapertÒ
(Suhrkamp).
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ZEIT MAGAZIN NR. 23/2014 12. JUNI 2014
FlŸchtlinge
UND VOR UNS LIEGT DAS
GL†CK
43.000 FlŸchtlinge sind 2013 Ÿbers Mittelmeer
nach Europa gekommen. Unsere Reporter haben sich im April auf eine dieser
†berfahrten gewagt. Die grš§te Gefahr lauerte jedoch nicht auf See. Von Wolfgang
Bauer
"Lauft!",
brŸllt es hinter mir, die helle Stimme eines jungen Mannes, eines halben Kindes
noch, "lauft!", und ich beginne zu laufen, ohne in der DŠmmerung viel
zu sehen, ich renne den Pfad hinunter, in einer langen Reihe mit den anderen.
Ich renne, so schnell ich kann, sehe auf meine F٤e, die mal auf Erde
aufsetzen, dann auf Stein. "Ihr Hurensšhne!", schreit einer der
Jungen, die uns eben aus den Minibussen gejagt haben und jetzt neben uns herrennen, uns antreiben wie ein Hirte sein Vieh. Er
schlŠgt mit einem Stock auf uns ein, auf unsere RŸcken, die Beine. Er packt
mich am Arm, rei§t mich fluchend voran. Wir sind 59 MŠnner, Frauen und Kinder,
ganze Familien, die RucksŠcke geschultert, die Koffer in den HŠnden, und rennen
an einer Fabrikmauer entlang, irgendwo am Rande eines Industriegebiets im
Šgyptischen Alexandria. mehr...
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